Die Schlagseiten

Das Projekt „Schlagseite“ fand seinen Beginn im August 2014.

Aus einer spontanen Idee heraus experimentierte ich mit dem Fotografieren von Menschen, die in ihrem Leben schon einmal zehrende Phasen erlebt haben. Diese können etwa durch traumatische Ereignisse oder Krankheiten ausgelöst gewesen sein. Mein Interesse ist wahrscheinlich privat begründet, da ich mich in der Vergangenheit mit den Themen Schlaganfall und Aphasie auseinandersetzen musste und diese mich auch in der Zukunft begleiten werden. Ist nicht jeder Mensch in einer gewisser Weise unvollkommen? Wie ist Unvollkommenheit eigentlich zu definieren? Ist ein Mensch, der ein physisches oder psychisches Defizit hat unvollkommen, gar minderwertiger, als ein so genanntes gesundes Individuum? Erkrankt nicht jeder einmal?

Unsere Gesellschaft zeigt leider auch heute noch in weiten Teilen, dass nicht jeder Mensch gleichwertig behandelt wird. Selbstverständlich kann nicht jeder von uns allen Anforderungen gleich begegnen. Jeder sollte anhand seiner Persönlichkeit und individuellen Fähigkeiten seinen Platz in der Gesellschaft finden, mit dem er oder sie zufrieden ist. Leider steht es aktuell noch oft an der Tagesordnung, dass körperlich oder geistig vermeintlich eingeschränkte Mitbürger in das Berufsleben nicht vollständig integriert werden. Auch im privaten Bereich sind viele, vor allem psychische Erkrankungen, noch Tabuthemen.

Ich versuche nun, künstlerisch darzustellen und zu begreifen, dass man Menschen mit „Schlagseite“ in einem besonderen Licht sehen und präsentieren kann. So bildet jemand, der auf eine spezielle Fähigkeit, wie das Sehen oder das Gehen verzichten muss, oft andere Begabungen aus, die Defizite im Alltagsleben kompensieren. Das Überstehen einer Krankheit oder auch das Überwinden von Hindernissen in kommunikativen oder praktischen Lebensbereichen kann einen Menschen sowohl mental, als auch körperlich über sich hinauswachsen lassen.

Die Arbeit „Schlagseite“ ist eine Serie, die Menschen in Schwarz-Weiß-Fotografien präsentiert. Von den einst, oder auch immer noch physisch oder psychisch belasteten Frauen oder Männer entstehen jeweils zwei Aufnahmen, wobei die eine die Personen in einer Tätigkeit zeigen, die sie gerne, hobbymäßig oder auch beruflich ausführen und die sie somit in gewisser Weise definiert. Die anderen Fotografien zeigen die Porträtierten in neutraler Pose ohne jegliches Beiwerk. Die beiden, gegenübergestellten Sequenzen decken einige, interessante Tatsachen auf. Oft wirkt die Atmosphäre der Aufnahmen von Menschen in den von ihnen bevorzugten Aktionen ungezwungener als jene in neutraler, ruhiger Weise. Viele Frauen und Männer, mit denen ich Gespräche geführt habe, erklärten, dass sie die gezeigte Tätigkeit erst seit der Kehrtwende in ihrem Leben ausführen. Die Gesichter der dargestellten Personen wirken oft ambivalent. Es scheint, als würden sich das Seelenleben, das Innere oder Emotionen im Wechselspiel von Licht und Schatten darstellen. Manchmal wirken zwei Fotografien desselben Individuums, als ob sie zwei völlig verschiedene Menschen zeigen, die äußerlich zwar identisch, aber hinsichtlich der Präsenz des inneren Zustandes absolut gegensätzlich sind. Unwillkürlich kam mir die Frage in den Sinn, ob wir Menschen in einem Lebensumfeld, in einem Universum, welches u.a. durch Gegensätze definiert wird, wie denen von Tag und Nacht, Himmel und Erde oder Feuer und Wasser, nicht auch jeweils durch zwei energetische Strukturen in unserem Gleichgewicht gehalten werden. So gab es schon im Mittelalter beispielsweise Vorstellungen wie die Vier-Säfte-Theorie, bei welcher der Mensch durch ein ausgewogenes Maß an inneren Vorgängen als gesund eingestuft wurde. Philosophische Theorien wie jene von „Ying und Yang“ stehen ebenfalls für polar bezogene Kräfte. Der Mensch ist permanent von Gegensätzen bestimmt. Er ist entweder wach oder müde, fröhlich oder traurig, krank oder gesund. Der Mensch ist jedoch nicht nutzlos oder brauchbar, funktionstüchtig oder kaputt. Jeder Mensch hat Facetten, die eben nicht den Stigmata „Gut oder Böse“ unterliegen. Jeder Mensch ist, wie er ist. Ich würde mir wünschen, wenn die Akzeptanz und vor allem das Verständnis von Individuen mit Schlagseite(n) Selbstverständlichkeit würde.